Raviver de l’ésprit en ce monde

Jullien Francois: Raviver de l’ésprit en ce monde, L’edition L’Observatoire 2023.

Wer sich auf ein fremdes Land und eine andere Sprache tief einlässt, gewinnt einen Abstand, eine Distanz zur bislang unhinterfragten Denkweise in der vertrauten Kultur, die Gewohnheiten werden entwöhnt, ein gewandelter und unverwandter Blick kann sich zurückwenden, der neu auf das nunmehr Entfernte schauen kann und dadurch offen wird für das bislang Übersehene oder Unbeachtete. Francois Jullien, der französische Sinologe und Philosoph, nutzt seit langem die chinesische Sprache und Philosophie, um Europa, die westliche Philosophie, die Sprachwurzeln europäischen Denkens besser zu verstehen, neu zu lesen, zu relativieren und gegen den Strich zu bürsten.

In seinem neuesten Buch, in dem erst im letzten Kapitel die chinesische Philosophie zu Wort kommt, geht Jullien in gewisser Weise aufs Ganze. Er will, wie er betont, den Geist, de l’esprit, wiederbeleben, in dieser Welt. Das ist ein grosses Projekt, und tatsächlich ist das Buch von einem grossen Engagement, von einer brennenden Sorge und auch von Zorn getragen. De l’esprit: das ist nicht l’Esprit, die grosse Institution des Geistes in einem dualistischen Gegensatz zur Materie oder zur Welt oder zur Seele. Der Geist, den es zu retten gilt, ist die Möglichkeit des Denkens, der Reflexion, der Kritikfähigkeit, der Abstandnahme, der Distanz. Nicht in Gegensätzen will Jullien denken, sondern in Entfernungen. So wundert es nicht, dass am Ende auch Walter Benjamin zitiert wird und seine schöne Definition der Aura als «Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag». Sie mahnt in poetischen Worten daran, wie wichtig ist es, sich auch immer wieder aus einer erdrückenden Uniformität, aus einer bindenden Nähe, aus der grossen Übereinstimmung entfernen zu können, um sich mit dem, was einen umgibt, weiterentwickeln zu können.

Damit lese ich das Buch von seinem Ende her (Kapitel 7), also ausgehend von seinem positiven Gegenentwurf einer Negativität, die Freiheiten wiedergewinnen soll. Jullien setzt ganz anders ein, und zwar mit den Phänomenen, die das Leben lähmen, nicht den Tod herbeiführen, aber am Leben vorbeigehen, non-vie, das Leben seiner Lebendigkeit berauben. Zunächst geht es um das, was dem Geist entgegensteht, den Clic. Die Welt des Internets wird an seinen Folgen gemessen, die es für das Denken hat. Die Geduld und die Fähigkeit sich einzulassen erschöpfen sich, wenn es möglich ist, sofort von einer Präsentation zur anderen zu klicken, seien diese nun Nachrichten, als Influencergespräche getarnte Werbungen oder der Sexualmarkt von Tinder. Stille auszuhalten, sich nicht sofort wieder mit den Nachrichten auf dem Mobilphone zu befassen, Erinnerungen zu haben, statt sofort im Internet zu recherchieren, diese Fähigkeiten verkümmern, sie wirken sich auf den Geist aus. Verkümmern wird die Fähigkeit zu lesen. Ein Buch in der Hand ist bereits nicht dasselbe wie ein elektronisches Buch. Wenn Jullien im zweiten Kapitel das «L’adieu au Livre» aufruft, erläutert er zugleich, was ein Buch sein kann. Es fordert die Grenzen des Sagbaren heraus oder es ist kein Buch, so lautet die fundamentale Aussage (S.32). Das Buch sagt nie etwas Letztes aus, aber beteiligt sich an den Fragen und Fragestellungen einer Kultur oder der Menschheit insgesamt. Daher ist ein Buch in diesem eminenten Sinn nie einfach Träger einer Information oder Ratgeber, sondern Anstoss. Bücher, die diesen Namen verdienen, öffnen einen Spalt, verlassen eine Koinzidenz, eine Übereinstimmung, sie bedienen nicht einen Geschmack, eine Vorerwartung, sondern geben zu denken. Jullien sieht es verschwinden, Anzeichen einer «stillen Transformation» (ein von ihm geschätzter Terminus), die er als ebenso gravierend einschätzt wie die Klimakatastrophe, als eine Katastrophe des Geistes im oben beschriebenen Sinn.

Das Zeitbewusstsein verändert sich. Die Gegenwärtigkeit, présence, weicht dem gegenwärtig Vorhandenen, dem présent. Wenn alles verfügbar erscheint, dann wird es unmöglich, sich dem in der Gegenwart zu widmen, was einen ergreift, was einen aufrüttelt, bewegt, was nicht einfach da ist, sondern sich entwickelt. Gegenwart und Begegnung sind Begriffe, die das «gegen» enthalten, den Anderen oder das Andere, auf die man trifft, die einen herausfordern. Pseudo-Präsenzen werden geschaffen, um den «Verlust der Gegenwärtigkeit» (présence)(Kapitel 3) auszugleichen, Events, Massenereignisse, die ohne Konsequenzen bleiben, die bloss eine situative Einheit herstellen.

Die Medienkritik verstärkt sich im nachfolgenden Kapitel 4. Sie unterstützen, so Jullien, das, was er Koinzidenz nennt. Ein gutes Beispiel dafür sind die Talkshows, in denen Dialoge inszeniert werden, wo es aber voreingestellte Haltungen gibt, die nur ein weiteres Mal zur Sprache kommen. Der Begriff selbst ist verräterisch: der Talk, das Gespräch, verkommt zur Schau. Ideen werden vermarktet, marktartig gehandelt, so dass die Ideen, die am besten ankommen, vertreten und verkauft werden, der Eînfluss der Einschaltquoten legt davon ein beredtes Zeugnis ab. Jullien spricht von den drei grossen C: Connexion, Communication, Consommation. Sie schaffen die Differenz, den Widerspruch, die Stille, auch das Risiko ab und uniformieren. Die Auswirkungen auf die Subjektivität sind verheerend (Kapitel 5). Es fehlt die Herausforderung, der «éffort», so wird ein «inertes Subjekt» geschaffen, anstelle eines «alerten Subjekts». Gefährdet ist also eine Haltung, die sich ausrichtet auf das, was es zu bewältigen gilt, die nicht hinnimmt, was ist, sondern überprüft, was sein könnte. «Das Subjekt, das die Möglichkeit von Umwegen (écarts) in seinem Leben nicht mehr kennt, steht nicht mehr in der Spannung des Lebens und hat sich dem einen wie dem anderen verschlossen: dem überwältigenden Enthusiasmus ebenso wie der unendlichen Verzweiflung, dem Ungestüm des Handelns ebenso wie der Verträumtheit.» (S.132).

Es braucht die Philosophie (Kapitel 6), eine Philosophie, die sich nicht zur Einzelwissenschaft reduzieren lässt, die Begrenzungen aufhebt, Rahmungen öffnet, die Zuschreibungen aus der Koinzidenz befreit (dé-coincider), die – ein Begriff, der Jullien sehr wichtig ist – ein Zwischen eröffnet, Zwischenräume also des Denkens, kreative Räume (S.169). Sie unterhält den Geist, entre-tenir meint: sie hält dazwischen, also bewahrt den Platz, ohne festen Ort, nicht Utopie (Ortlosigkeit), sondern Atopie (Nicht-Festgelegtsein des Ortes).

Der Untertitel des Buchs lautet: Un diagnostic du contemporain, eine Diagnose unserer Gegenwart. Sie fällt pessimistisch aus, obgleich es dem Autor wichtig ist, auch die Möglichkeiten zu sehen, die sich aus kulturellen und gesellschaftlichen Trends ergeben. Der Pessimismus überwiegt, und manchmal scheint – gegen die erklärte Absicht des Autors – die Klage zu überwiegen und das Buch der Gefahr der Larmoyanz nicht zu widerstehen. Es wäre schade, wenn dieser Eindruck dazu führte, das Buch aus der Hand zu legen. Nein, es verdient, ernstgenommen zu werden, und dies in zwei Hinsichten. Es geht nicht um Denunziation, sondern um (gesellschaftliche) Diagnostik, und sich mit ihr auseinanderzusetzen, die eigenen Standpunkte an den hier dezidiert vorgestellten Thesen zu messen, ist notwendig und vor allem lohnend. Und damit ist auch gleich die zweite Hinsicht angesprochen. Die Thesen werden nie aus der Luft oder aus Voreingenommenheiten geschöpft, sondern begründet. Das Buch ist ein höchst durchdachtes philosophisches Werk, das sich einschreibt in philosophische Diskurse, das diese aber in einer immer klaren und nachvollziehbaren Sprache wiedergibt. Dem Autor geht es erkennbar nicht um grosse Namen (die auch aufgerufen werden), sondern um Standorte, Denkkonzepte, die nicht um ihrer selbst willen gebraucht werden, sondern die es erlauben, sich um die eigene Lebendigkeit und das Leben des eigenen Geistes, des eigenen Reflexionsvermögens zu kümmern. Das Buch hilft auch dem Leser und der Leserin, den Geist wiederzubeleben.

Basel, März 2024
Joachim Küchenhoff

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Ode an die neue Reihe «rororo Entdeckungen»