Homo destructor

Die Studie «Homo destructor» spannt einen weiten Bogen von den Menschenaffen vor 20 Millionen Jahren bis heute. Menschliche Entwicklung beginnt für Werner Bätzing bei den Vormenschen vor sieben bis acht Millionen Jahren mit der Herausbildung des aufrechten Ganges: Mit diesem «werden die Hände allmählich von der Aufgabe der Fortbewegung freigemacht und können für andere Zwecke eingesetzt werden, nämlich als Werkzeug [...], für soziale Aufgaben [...] und um Dinge zu tragen.» (50) Auch das Gehirn entwickelt sich und ermöglicht so eine intensive Hand-Gehirn-Interaktion.

Erst vor 300'000 Jahren soll nach aktuellen Erkenntnissen der Homo sapiens entstanden sein, dessen Gehirn das dreifache Volumen eines Schimpansengehirns hat und der über immer raffinertere Werkzeuge verfügt. Die Feuerbeherrschung geht bis auf den Homo erectus vor 1,8 Millionen Jahren zurück. Formen von Laut- und Gebärdensprache werden bereits bei den Menschenaffen angewandt, durch Veränderungen im Mundraum-Rachen-Kehlkopf kann der Homo Sapiens die Sprachbeherrschung perfektionieren. Dadurch steigt die Fähigkeit zur Distanznahme vom Hier und Jetzt, die höhere Abstraktionsfähigkeit verbessert die Informationsweitergabe und fördert Lernprozesse. Dies ist auch nötig, da der Homo Sapiens nicht als «Spezialist» in einen bestimmten Lebensraum eingepasst ist, sodass er sich durch kulturelles Lernen an jeweils unterschiedliche Lebensräume anpassen und sich so immer wieder neu gesellschaftlich formen muss.

Überflussgesellschaften der Jäger und Sammler
Die eigentliche Geschichte der Menschheit beginnt für Bätzing mit der Gattung Homo vor 2,8 Millionen Jahren. Seitdem lebten die Menschen den weitaus grössten Teil der Zeit als Jäger und Sammler. Ihre Lebens- und Wirtschaftsweise ist stabil und nachhaltig, sie zeichnet sich dadurch aus, dass die Eingriffe in die Natur minimal sind: «Sie entnehmen der Natur diejenigen Produkte, die die Natur von sich aus – ohne Zutun des Menschen – hervorbringt.» (90) Dies erfordert differenzierte Kenntnisse «über die Art und Weise des Wachstums und der Vermehrung der gesammelten Pflanzen und gejagten Tiere» (92) sowie vorausschauendes Planen. Immer auf Wanderschaft durchstreifen Jägerinnen und Sammlerinnen in Gruppen grosse Gebiete, um stets ausreichende Nahrungsquellen zu haben. Da sie wenig produktiv, aber effizient in der Nahrungsgewinnung sind, «liegen die täglichen Arbeitszeiten im jährlichen Mittel bei nur zwei bis vier Stunden» (95). Bätzings Schilderung der Lebensweise der Jäger und Sammler mit viel freier Zeit und «Mussepräferenz» klingt wie eine Utopie: «Alle Arbeiten werden niemals in Eile und stets mit einer gewissen Ruhe ausgeführt, zwischen den Arbeitsphasen gibt es lange Zeiten mit Nichtstun und Schlafen, und gemeinschaftliche Aktivitäten wie Erzählen, Spielen, Feiern, traditionelle Rituale und religiöse Zeremonien besitzen einen grossen Stellenwert.» (95f.) Die Menschen sind in relativ lockeren Grossgruppen ohne Hierarchien organisiert. Konflikte und Aggressionen werden grossteils durch Drohgebärden und Zeremonien bewältigt, richtige Kämpfe gibt es kaum, Kriege nicht. Das verbreitete animistische Weltbild deutet Landschaft und Natur als beseelt, der Mensch darf sie nicht zerstören und muss ihr mit Ehrfurcht begegnen: «Deshalb ist ihre Naturnutzung nicht einfach eine Ausbeutung der Natur – man nimmt all das, was man bekommen kann –, sondern eine bewusst geregelte Naturnutzung, die sich an der Ordnung der Natur orientiert und die sich ihr gegenüber ‹verantwortlich› fühlt.» (103f.)

 

Bauerngesellschaft, Stadt, Reich
Die Geschichte der Menschheit wird von zwei grossen Wendepunkten bestimmt: Mit der «Neolithischen Transformation» findet ab 9500 v. Chr. mittels Domestizierung von Pflanzen und Tieren ein Übergang zur Landwirtschaft statt. Mit einfachen Mitteln kann der Flächenertrag um den Faktor 200 gesteigert werden, durch technische Verbesserungen noch einmal um das Dreissigfache.

In der ersten Phase der Bauerngesellschaften sind die Gruppen noch gleichberechtigt: «Alle Familien eines Dorfes bewirtschaften ähnlich grosse Flächen und besitzen die gleichen Rechte und Pflichten, und die gegenseitige Hilfe und Unterstützung hat im Alltag, in Krisenzeiten sowie bei Not- und Unglücksfällen eine zentrale Bedeutung.» (145) Die Beziehung zur Natur ist von Ehrfurcht geprägt, ihre landwirtschaftliche Nutzung wird als religiöse Tätigkeit verstanden. Diese gebietet eine Praxis, die sich an Selbstversorgung orientiert und Übernutzung verhindert. Auch wenn sich erste Umweltzerstörungen nicht vermeiden lassen, besteht noch ein grosses Verantwortungsbewusstsein, diese zu verhindern, da durch sie auch die Lebensgrundlage der Menschen bedroht wäre.

Aus den egalitären Bauerngesellschaften entwickeln sich ab 3300 v.Chr. Hochkulturen mit ersten Städten als religiöse, politische und ökonomische Zentren, die Handwerk und Handel ermöglichen. Diese prägen die Welt bis zur industriellen Revolution. Hauptstädte von ersten Reichen werden zu Grossstädten mit mehr als 100’000 Einwohnern. In diesen entwickeln sich Arbeitsteilung und Spezialisierung, Schrift und Zahl, Rechtswesen und Wissenschaften. Die dunkle Seite des Fortschritts ist ein hoher Arbeitskräftebedarf und eine tägliche Arbeitszeit von acht bis zehn Stunden. Die Mangelernährung und Krankheiten nehmen zu, die Lebenserwartung ab, die Menschen werden kleiner. Dies führt schliesslich zur Herrschaft «von wenigen Menschen über die grosse Mehrheit und zur Konzentration des gesamten Reichtums in den Händen von wenigen.» (120)

Während der «Achsenzeit» (800 bis 200 v. Chr.) breiten sich in einigen Regionen der Welt ein «Hirtennomadismus» aus sowie vorwiegend monotheistische Religionen mit universalem Deutungsanspruch: «Die irdische Realität wird als eine Welt voller Unordnung, Ungerechtigkeiten, Krieg, Unglück, Krankheit und Tod erlebt, und die jenseitige Welt stellt man sich als eine vollkommene Welt vor, die von all diesen Unzulänglichkeiten frei ist.» (212) Mit dieser Abstraktionsleistung löst sich der Mensch zum ersten Mal konsequent von der konkreten Welt und beginnt sich den scheinbar grenzenlosen Möglichkeiten gesellschaftlicher Selbstbestimmung zu öffnen.

 

Moderne und Aufklärung
Den zweiten grossen Wendepunkt der menschlichen Geschichte stellt die industrielle Revolution dar. Den Weg zu dieser bereitete die Moderne, für deren Entwicklung Bätzing drei Ansätze ausmacht. Den ersten sieht er im antiken Griechenland ab 800 v. Chr.: Neue Errungenschaften sind die Entwicklung von Buchstabenschrift, Geldwirtschaft, Demokratie, Philosophie/Logik und Mathematik/Geometrie, die heute die Grundlagen unserer modernen Welt bilden. Mit diesen entstehen abstrakte Strukturen, denen es nicht mehr um «die Verarbeitung konkreter Erfahrungen [geht], sondern um allgemeingültige Erkenntnisse, die ‹immer und überall› gelten sollen.» (231)

Nachdem seit dem 4. Jahrhundert v.Chr. die Moderne versandet war, setzte sie um 1000 n.Chr. im europäischen Mittelalter aufs neue an. Das Hochmittelalter greift die Abstraktionen der Antike auf und entwickelt sie weiter, dies wiederum endet nach dem Ausbruch der Pest um 1350. Der Durchbruch zur modernen Welt erfolgt schliesslich mit der europäischen Renaissance um 1500 n.Chr., die im 18. Jahrhundert zur Aufklärung führt.

Bätzing sieht neun entscheidende Bereiche für deren neue Weltsicht:

∙ Naturwissenschaften: Aus der respektvollen Erkenntnis der Natur entwickelt sich die Behandlung der Natur als Material.
∙  Arbeit: Aus einer mühevollen Tätigkeit, die eingestellt wird, wenn das Ziel erreicht ist, wird eine rastlose Berufstätigkeit ohne Ende.
∙  Recht: Aus vielen besonderen Einzelfällen werden einfache Standardlösungen.
∙  Philosophie: Aus einem Körperwesen mit Emotionen, Gefühlen und Geist wird ein rationales Geistwesen.
∙  Mathematik: Aus dem Rechnen mit konkreten Zahlen wird die Berechnung des Unendlichen.
∙  Staat: Aus einer Institution für den Menschen entwickelt sich der rationale Staat als Selbstzweck.
∙  Geld: Aus einem festen Wertsymbol wird eine substanzlose Recheneinheit, die ins Unendliche gesteigert werden kann.
∙  Sozialdisziplinierung: Aus einer Einordnung des Einzelnen in die Gemeinschaft entwickelt sich die gewaltsame Einübung der abstrakten Abstrakta.
∙  Gesellschaftsform: «Aus dem gemeinschaftlichen Wirtschaften und Zusammenleben entwickeln sich die formalen Prinzipien von Markt und Demokratie.» (262)

Natur erscheint in diesem Weltbild als unendliche Ressource, die mit den Prinzipien der Vernunft frei genutzt werden kann. Ein solches Weltverständnis schafft die Grundlagen für die industrielle Revolution.

 

Industriegesellschaften
Mit der Entstehung von Industriegesellschaften verselbständigt sich zum ersten Mal in der Geschichte die Wirtschaft von der Gesellschaft. Es entsteht eine grenzenlose Dynamik, Wirtschaft wird zum Selbstzweck, der das gesamte menschliche Leben dominiert.

Historisch neu ist auch, dass durch die Nutzung der fossilen Energieressourcen (Stein- und Braunkohle, Erdöl, Erdgas) zum ersten Mal Energie scheinbar unendlich zur Verfügung steht.

Mit dieser Energie können Maschinen betrieben werden, die menschliche Arbeit ersetzen und durch Effizienzgewinne eine Massenproduktion mit niedrigen Stückkosten ermöglichen. Es kommt zu einer Verbesserung des materiellen Wohlstands, dies allerdings um den Preis «einer sehr starken Verdichtung und Intensivierung aller Arbeitsschritte und mit ihrer Unterordnung unter den Rhythmus der Maschine» (277) sowie einer hierarchischen Arbeitsorganisation. Arbeit wird anstrengender und weniger selbstbestimmt, die Lebensqualität sinkt.

Unternehmertum, technischer Fortschritt, Kapital sorgen für permanente Innovationen und scheinbar unbegrenztes Wirtschaftswachstum. Der Markt organisiert das gesamte Wirtschaften: «Deshalb ist das Ziel des Wirtschaftens auch kein menschliches Ziel wie die Produktion von menschlichen Dingen, die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse oder die Gewährleistung eines guten Lebens, sondern allein der unendliche Selbstzweck, aus Geld mehr Geld zu machen.» (279)

 

Dienstleisungsgesellschaften
Ab dem Jahr 1970 diagnostiziert Bätzing die Durchsetzung der Dienstleistungsgesellschaften. In diesen bleibt die industrielle Produktion trotz Arbeitsplatzverlusten ein relevanter Wirtschaftssektor. Der Dienstleistungssektor wächst dagegen massiv, da immer mehr Bereiche für mögliche Dienstleistungen entstehen. Dies ist eine Folge der technischen Entwicklung, zunehmender Arbeitsteilung und Spezialisierung, der Kommodifizierung ehemals nichtwirtschaftlicher Dienstleistungen etwa im Sozialbereich, der wachsenden Bedeutung von Bildung, Ausbildung, Fort- und Weiterbildung, des Ausbaus des Gesundheitsbereichs sowie der allgemeinen Zunahme des Wohlstandes, die für breite Gesellschaftsschichten Luxuskonsum ermöglicht. Wirtschaftliche Veränderungen wie die Ablösung des «Bretton-Woods-Abkommens» mit festen Wechselkursen «durch das Spiel von Angebot und Nachfrage am Devisenmarkt» (317) führen zur «Entfesselung der Finanzmärkte». 1973 gilt als das Jahr, ab dem neoliberale Politik immer einflussreicher wird, die den Wirtschaftsverkehr zwischen den Staaten auf der Erde immer weiter liberalisiert und die Globalisierung der Weltwirtschaft vorantreibt.

Mit den immer grösseren technischen Möglichkeiten entsteht eine Konsumgesellschaft: «Indem der Mensch seine Bedürfnisse immer häufiger und selbstverständlicher mittels Geld befriedigt, verändern sich im Lauf der Zeit allmählich seine Bedürfnisse und sein Selbst- und Weltbezug.» (329) Kaufhandlungen treten an die Stelle einer aktiven Auseinandersetzung mit der Welt, das Wunschbild unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung setzt sich durch, Konsum wird identitätsstiftend, es kommt zu einem permanenten Wachstum der Bedürfnisse.

 

Wie Umweltzerstörung beenden?
Obwohl bereits seit dem Neolithikum menschlich verursachte Umweltzerstörung exisitiert, erreicht diese erst durch die Industriegesellschaften eine globale Dimension. Seit Ende der 1950er Jahre kommt es zu einem steilen Anstieg der Kohlenstoffdioxidkonzentration in der Erdatmosphäre, es kommt zu globaler Klimaerwärmung, einer Zunahme von Wetterextremen, der Schädigung von Ökosystemen. Gesundheit und Ernährungsversorgung vieler Menschen werden beeinträchtigt. Für Bätzing sind durch die Folgen der Entgrenzungen auch der Zusammenbruch der Wirtschaft, die Auflösung der Gesellschaft, das Zusammenbrechen der Individuen in Reichweite.

Grunderkenntnisse von Bätzings Mensch-Umwelt-Geschichte sind, dass Umweltprobleme mit den Grundprinzipien von Wirtschaft, Gesellschaft und Raumnutzung zusammenhängen. Für die Epochen der Jäger-und-Sammler-Gesellschaften wie auch für die egalitären Bauerngesellschaften hält er fest, dass in diesen Umwelt kaum zerstört wurde. Mit steigendem Fortschritt der technologischen Entwicklung stiegen mit den Möglichkeiten jedoch auch die Gefährdungen. Durch die Offenheit seiner Bedürfnisse und seine Grenzenlosigkeit war und ist der Mensch fähig, seine Lebensgrundlagen, seine Umwelt und sich selbst zu zerstören. Um dagegen sein Überleben zu sichern, ist er darauf angewiesen, Selbstbegrenzungen und einen verantwortlichen Umgang mit der Natur auszubilden. Für Bätzing braucht es «neue Formen des Wirtschaftens und (Zusammen-)Lebens sowie ein neues Selbst-, Natur- und Weltverständnis des Menschen, um seinen Naturumgang in allen Bereichen auf eine neue und dauerhafte Grundlage zu stellen.» (369f.)

Angesichts der nach wie vor steigenden Umweltprobleme und Konflikte hält Bätzing es jedoch für ein realistisches Szenario, dass es zwar nicht zu einem grossen, plötzlichen Zusammenbruch kommt, jedoch zu Teilzusammenbrüchen, bei der «wohl alle Pfeiler der modernen Welt – Geld, Markt, Staat, Recht, Macht, Globalisierung – stark geschwächt [werden]. Gleichzeitig werden die betroffenen Menschen zum Teil auf Elemente der vormodernen Welt – Selbstversorgung statt Markt, Tausch statt Geld, Familie und Nachbarschaft statt Staat» zurückgeworfen. Damit könnten im günstigen Fall, dies ist zumindest Bätzings Hoffnung, auch Freiräume eröffnet werden für die Entwicklung wirklich nachhaltiger Lebens- und Wirtschaftsformen: Mit einer Wirtschaft, die in erster Linie der Versorgung der Menschen mit lebensnotwendigen Gütern dient, einem achtsamen Umgang mit Energie und einer kulturellen Selbstbegrenzung, die sich mit ökologischer Nachhaltigkeit vereinbaren lässt.

Rezension von Johannes Gruber

Basel, 14.02.2024

Werner Bätzing: Homo destructor. Eine Mensch-Umwelt-Geschichte. Von der Entstehung des Menschen zur Zerstörung der Welt.

C.H.Beck Verlag 2023.

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